Textproben für für Erwachsene
- Poesie des Alltags
Eiskalt, wohlig warm
Der Wind eines roten Oktobertages hat ihr Mut zugeweht. Wild-warmen Oktoberwindmut. So beschließt Gerlinde, es zu wagen. Das erste Mal wieder, seit Jahren. Sie hatte es sich eine Ewigkeit lang nicht getraut, denn der Kummer über den Verlust hatte sie rund werden lassen. Nein fett, wie sie sich selbst eingestand. Ihre Form: fern jeder Norm.
Doch musste sie sich deswegen das verbieten, was früher ihre größte Leidenschaft gewesen war?
An jenem roten Oktobertage also fasst sich Gerlinde ein Herz.
Vor dem Spiegel dreht sie einige Runden um sich selber, sehr aufrecht – welch gutes Gefühl!
Sie malt ihre Lippen an, oktoberblattrot; dann die Nägel, signalrot – Achtung, ich komme!
Ihren Körper zwängt sie in ein knallgrünes Kleid, in das hautenge mit dem tiefen Dekolletee – wenn schon, dann richtig – und ihre Füße in Lederpumps, echte Highheels mit einer Glitzerschleife oben drauf.
Und dann, zuletzt, nach einem zitternden Zögern, legt sie die Perlen um, die Kette, die sie bekommen hat, damals, von ihm.
Schließlich, kurz vorm Gehen, wirft sie noch einen Blick in den Spiegel – prüfend erst, dann bewusst eisig-kühl: Ja, mit dieser Miene wird sie den Saal betreten.
Sie wird mit erhobenem Kopf in das Zentrum der starrenden Runde schreiten, all die Null-Acht-Fünfzehn-Typen fixieren, die Menschen ohne Gesicht. Und sie wird in die leeren Augen der Leute lächeln, die sich von zahllosen „Du-Mussts“ zu Schatten haben machen lassen, zu Figuren in einem Spiel, dessen Herren sie längst nicht mehr sind.
Gerlinde wird das Parkett erhobenen Hauptes betreten und tanzen, ganz SIE, notfalls auch ohne Musik.
(c) Sylvia Eggert
- Märchenhaftes
Die Geschichte des Bergsees
Einst gab es einen See. Der lag in einem Hochgebirge und war tagein tagaus von einer dünnen und manchmal, jahreszeitlich bedingt, auch von einer dickeren Eischicht bedeckt. Durch diese hindurch konnte der Bergsee die Welt um sich herum nur wie durch eine alte, milchig gewordene Glasscheibe betrachten.
Der See war traurig darüber, dass es ihm an Durchblick und Scharfsicht mangelte. Wie gern hätte er – nur einmal – mit klarem Blick den Flug der Vögel betrachtet und dem Zug der Wolken zugeschaut.
Der Bergsee hatte es satt, die Dinge um sich herum immer nur erahnen zu können, statt sie wirklich zu sehen.
Der Ärger über diese Einschränkung seiner Weltsicht wuchs und wuchs, bis sie zu wilder Wut heranreifte, die das Gemüt des Sees in Wallung brachte und sein Wasser so sehr erhitzte, dass das Eis auf seiner Haut schmolz.
Eine unbändige Freude erfasste den Bergsee. Eine Freude darüber, dass er die Dinge um sich herum nun in all ihrer Schönheit und Klarheit sehen konnte. Er betrachtete die Welt um sich als etwas Besonderes, als Wunder.
Er war so sehr damit beschäftigt, all das Neue und Andere haarklein zu betrachten und zu belauschen, zu bewundern und zu bestaunen, dass er darüber mehr und mehr sich selbst vergaß.
Mit der Zeit erfasste ihn eine sonderbare Schwermut.
Er fühlte sich trauriger und immer trauriger. So traurig, dass ihm ganz kalt zumute ward.
Mit der Kälte kehrte das Eis auf die Oberfläche des Sees zurück.
Und da, unter der dünnen Eisschicht, entdeckte der Bergsee plötzlich wieder sich.
(c) Sylvia Eggert
- Kriminelles
Not-Lösung - ein Postkartenkrimi
Alarm in der Galerie: Glasbruch.
Aber von Einbruch keine Spur.
Nichts scheint zu fehlen. Keine Verwüstungen feststellbar. Nur ein paar fremde Fußspuren.
Die ausgestellten Vinorelle hängen jedoch an Ort und Stelle.
Tage später, nach der Finnisage, beim Abhängen der Bilder:
Ein plötzliches Stutzen der Malerin.
Sie schnüffelt.
Verkostet.
Schreit: „Kopien! Kopien!“
Der Verdacht fällt auf den Kunstfälscher Peter Wunder, der früher für seine ominöse Kunstfertigkeit so berühmt war, wie er heute für seine schreckliche Trunksucht berüchtigt ist.
Tatsächlich entdeckt man in seinem Unterschlupf die zu den Fußspuren in der Galerie passenden Schuhe.
Und die echten Vinorelle – kaum wiederzuerkennen.
Ein Gentest beweist: Die Schleckspuren auf den ruinierten Bildern stammen von Peter Wunder.
Der wird zum Entzug in die Klinik eingewiesen, die Künstlerin nach einem Nervenzusammenbruch ebenfalls.
Dort beschließt sie während der Therapie, das Genre zu wechseln.
Sie malt ab jetzt: Urinelle.
(c) Sylvia Eggert
- Humoristisches
So ein ERger!
Eigentlich suchte ich etwas völlig Unverfängliches im neuen Duden - in dem ganz neuen, in dem mit der reformierten der reformierten Rechtschreibung drin. Und plötzlich fällt mir etwas ganz Unerhörtes auf: Unsere deutsche Sprache ist ja völlig ver-mannt! Bekanntlich gibt es zur Bezeichnung der Geschlechter drei Personalpronomen: ER, SIE und ES. Im neuen Duden widmet man vierundzwanzig Spalten Wörtern, die mit ER anfangen. Dem stehen gerade mal vier Spalten mit Wörtern gegenüber, die mit SIE beginnen. Und auch mit ES als Auftakt gibt es nur vier Spalten. Vierundzwanzig zu vier - das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Wenn das nicht eine geradezu überwältigende Dominanz der ERs über die SIEs und die ESes darstellt!
Da findet man z.B. das Wort ERDE. Wieso bitteschön ERde. Dabei trifft man doch mindestens genauso häufig auf Frauen und Kinder. Wäre es also nicht gerechter, auch diese beiden Geschlechter bei der Benennung unseres schönen blauen Planeten zu berücksichtigen? Zugegeben: „ERSIEESde" klingt irgendwie komisch. Aber vielleicht könnte man ja paritätisch vorgehen und jeweils nach vier Monaten den Namen wechseln? Dann gäbe es vier Monate den Erde, vier Monate die SIEde und vier Monate das ESde (die Artikel sollten auch grammatisch korrekt gewählt werden). Oder wieso heißt es z.B. ERregung? Bloß weil bei IHM die Regung eindeutig deutlicher sichtbar ist als bei IHR?
Tja, und die Reihe dudenscher Ungerechtigkeiten lässt sich leider fortsetzen. Oder, was meinen Sie zu „ erhebt"? Hebt ER etwa allein? Man bedenke, was eine Frau so alles hebt im Laufe ihres Lebens? Das fängt im Kleinkindalter beim Röckchen an, geht in der Jugend mit gewissen Blicken weiter und hört später mit dem Wäschekorb und dem Wischeimer auf. Oder was heißt hier: „ertragen". Ja, zu Beginn einer Beziehung trägt ER SIE oft auf Händen. Erfahrungsgemäß lässt solcher Eifer bei IHM über die Jahre jedoch nach. Sie aber trägt unermüdlich weiter: hübsche Kleider, das Baby im Bauch, den Kindern Geschichten vor, den vergessenen Hochzeitstag mit Fassung usw.
Nun ja, und die Krönung des Ganzen: „erzeugen". Als könne ER allein zeugen... Trotz aller medizinischen Fortschritte - eins ist sicher: Zum Zeugen gehören zwei - bis in alle Ewigkeit. Da kann ER ergießen so viel er will. Ohne SIE bzw. ES (das Ei) wächst da nix. Zumindest kein Nachwuchs. Nun denken Sie bloß nicht, ich hätte was gegen Männer. Aber die Gleichberechtigung der Geschlechter lässt hier doch sehr zu wünschen übrig! Wo ist denn die Schwarzer, wenn man sie mal braucht. Ich jedenfalls werde bei der Duden-Redaktion meine Stimme sieheben und einen Antrag stellen.
So wie heute in jedem Buch zu stehen hat: Liebe Leserinnen und Leser, so wie heute jede Rede zu beginnen hat mit: Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, so hat im Duden zu stehen: ERde, SIEde, ESde; ERregung, SIEregung, ESregung usw. usw. Ist das nicht eine tolle SIEfindung?
(c) Sylvia Eggert
Sauereien
Der Eberhard sucht eine Frau.
Er träumt von einer echten Sau:
So richtig speckig soll sie sein
und borstig und ein fettes Schwein.
Doch ach, auf seinem Hof,
da sind alle Säue doof:
Die Rosi ist ganz furchtbar reinlich,
Susi findet's Sau-Sein peinlich,
Erna kaut mit spitzem Rüssel,
Lucy badet in der Schüssel,
Emmis Rücken ist rasiert,
Annis Hintern epilliert,
Lilli lebt im Schlankheitswahn,
Gaby, die hat Gold im Zahn.
Und bei Hanni - welch ein Ding
da prangt in jedem Ohr ein Ring,
und bei Lolas fünfzehn Zitzen
steckt ein Piecing in den Spitzen.
Da ist Eberhard getürmt
und hat den Öko-Hof gestürmt.
Dort sind alle Säue so,
wie es Eberhard macht froh:
Immer noch total natürlich,
wirklich richtig ungenierlich,
so wie Säue früher war'n:
vor dem ganzen Schönheitswahn.
(c) Sylvia Eggert
- Lyrisches
Erkenntnisse
I
Im Fensterglas im Abendlicht
spiegelt sich still mein Gesicht.
Bin ich das? Bin ich das nicht?
Die Zeit grub in die Haut mir
Jahresringe aus Papier.
Im Fensterglas im Abendlicht
spiegelt sich stumm mein Gesicht.
II
Die Zeit rennt,
verrinnt mit dem Fluss des Lebens.
Wie Wüstenstaub rieseln die Jahre
in der Sanduhr bergab.
Doch manchmal bleiben wir stehen
und sehen –
auf stillen Wassern:
uns selbst –
wie wir eigentlich sind.
(c) Sylvia Eggert
LichtSpielHaus
In dichten Bündeln fällt Licht,
bricht durch gläsernes Himmelsdach.
Sonne durchflutet den Raum,
glitzernder Schaum wogt in jedem Winkel.
Staubpünktchen tanzen und schweben,
streben zum Frühlingsball.
Überall im Wintergarten
warten summend die Gäste.
Lichtfünkchen flimmern,
glimmern am Zimmerbrunnengrund.
Und rosig Kameliendamen winken,
trinken Tautropfensekt im Spiegelglassaal.
Oh, welch rauschender Sinnenschmaus:
Romantik-Kino im Licht-Spiel-Haus.
(c) Sylvia Eggert